Dienstag, 13. Oktober 2015

Wer Barockprälaten bisher nur von Gemälden kannte...

In der "Living History"- bzw der "Reenactment"-Szene (also bei der historischen Darstellung von Lebenswelten und Ereignissen) gibt es selbstverständlich große Unterschiede. Die Faustregel lautet: Je näher am historischen Original, desto besser.

Es gibt Leute, die mal eben Omas Gelsenkirchener-Barock-Sofa häuten, um daraus eine "Ludwig XVI"-Weste zu basteln, mit Plastikperücken rumlaufen, oder einen Schlauch aus knallrotem Polyester-Satin nähen und meinen "Ich bin heute mal Kardinal". Das kommt eher nicht so gut.

Dann gibt es Leute, die sich mit der Materie erst einmal richtig befassen, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen. Das gefällt schon sehr.

Und dann gibt es den freischaffenden Künstler Matthias Richter, der mit seiner Truppe Cour de Cassel momentan wahrscheinlich das Maß aller Dinge im höfischen Bereich des Reenactment ist. Denn dort wird nicht nur aus wertvollen Materialien historische Kleidung angefertigt, die einem die Augen sozusagen überlaufen läßt. Man befaßt sich dort auch ausgiebig mit der Epoche, die dargestellt werden soll. So werden nicht nur Hofzeremonien und Etikette studiert, sondern auch wichtige Punkte aus dem Allgemeinwissen gepaukt, Sprachen gelernt oder aufgefrischt und zeitgenössische Philosophie, Speisen und sogar Kartenspiele nachgeforscht.

Denn Ziel der Darbietungen des Cour de Cassel ist nicht etwa ein Kostümfest, sondern ein möglichst originalgetreues Heranführen an eine bestimmte Epoche.

Ich persönlich schiele bei Reenactment-Darbietungen natürlich immer gerne zuerst auf den Klerus. Und was ich da bisher zu sehen bekam, war bis auf seltenste Ausnehmen wenig erfreulich bis haarsträubend. Vielleicht hat sich da einfach ein falsches historisches Bild in den Köpfen der Leute festgesetzt. Oder vielleicht denken manche auch, daß es auf Genauigkeit gar nicht so ankommt, so lange man als Kardinal nur einen dicken, roten Klunker und eine Gardine über rotem Talar trägt.

Um so begeisterter habe ich Matthias Richter für sein letztes Projekt mit ein wenig bescheidener Beratung beigestanden. Denn es wurde die Chortracht für einen Kardinal aus der Mitte des 18. Jahrhunderts angefertigt. 30 Meter echter Seiden-Moirée, antike Spitze und Kunstpelz (wegen Tierschutz) wurden in langer Arbeit zu einem Ensemble verarbeitet, das sich mehr als sehen lassen kann.

Die öffentliche Uraufführung fand statt am 26./27. September auf Schloß Bückeburg, bei den Lebendigen Barocktagen.

Und hier gibt's jetzt ein paar Bilder zum Gucken und Staunen:

Bild: Kersten Kircher (mehr hier)


Bild: Kersten Kircher (mehr hier)


Bild: Kersten Kircher (mehr hier)


Bild: Heidelbergensis (aus der Bilderstrecke auf Cour de Cassel)


Bild: Johannes Pietsch


Bild: Johannes Pietsch

So, und jetzt ist die Latte für künftige historische Darstellungen des hohen Klerus erst einmal ziemlich hoch gelegt.

3 Kommentare:

Robert hat gesagt…

Ah - sehr schön! Was ich (ohne nähere Forschungen) stark vermute/vermisse: Die Gesichter dürften wohl gepudert, ev. sogar etwas geschminkt sein. Besonders in der Kartenspiel-Szene meine ich dies zu vermissen. Auch bei Männern war dies bis 1900 durchaus üblich!
Zum Kartenspiel (= "Gebetsbuch des Teufels"): war das wirklich eine übliche Freizeitbeschäftigung des hohen Klerus? Wobei natürlich Kardinäle seinerzeit nicht unbedingt zum geweihten Klerus gehört haben müssen.

Der Herr Alipius hat gesagt…

Ich bin mir ziemlich sicher, daß auch Kleriker jeglichen Ranges dem Kartenspiel nicht abgeneigt waren. Ob es allerdings wirklich üblich war, ist eine andere Frage.

Scriptor flammae hat gesagt…

*lol* Das ist so schlimm, dass es schon wieder schön ist. Ich persönlich müsste bei so einem Outfit ja eine eigene Unfallversicherung abschließen... ;-)

LG nach Klosterneuburg